Das Verhältnis von Körper und Raum spielt häufig eine zentrale Rolle im Theater. So kann es auch als gemeinsames Überthema zweier Inszenierungen von Max Reinhardt zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelten. Diese beiden Inszenierungen von Max Reinhardt – König Ödipus 1910 in München und Berlin sowie Der Kaufmann von Venedig 1934 in Venedig – stellen jeweils menschliche Körper in ein besonderes Wechselverhältnis zum sie umgebenden Raum. Reinhardt bedient sich dann dieses Wechselverhältnisses und macht die daraus resultierende Spannung für ästhetische Wirkungen produktiv.

Bei Reinhardts König Ödipus wäre der zentrale Begriff für das Verhältnis von Körper und Raum wohl der Massenkörper[1]. Die beiden Aufführungsorte Zirkus Schumann sowie die Ausstellungshalle in München sind amphitheatrisch angeordnete Massenschauplätze. Dies hat zwei spannende Konsequenzen: Einerseits haben die Zuschauer*innen durch die Anordnung ständig nicht nur die Bühne, sondern immer auch einen Teil des restlichen Publikums im Blick. Hierüber können sie sich selbst als Teil dieser Masse an Zuschauer*innen begreifen. Andererseits ist in beide Orte eben schon immer eine Geschichte der Masse eingeschrieben. Zirkus wie Ausstellungshalle sind Orte deren Publikum nicht die Bildungselite, der Hochadel oder ähnliche kleine Zirkel sind, sondern die dezidiert Orte der (breiten) Masse sind.

Die Auswahl des Ödipus Rex als Inszenierungstext baut dann auch genau auf diesen Momenten auf. In seinen chorischen Formationen kann die Tragödie selbst als eine Darstellung des Massenkörpers begriffen werden und in seiner Historizität in der Aufführungspraxis der griechischen Polis verweist es auch auf eine spezifische Form der Gemeinschaftsbildung. Die Inszenierung überspannt somit ein Themenfeld, welches nicht nur das Verhältnis des Einzelnen zur Masse des Publikums, sondern auch zur Masse der dramatisch Agierenden und zur Masse der (historischen) Gemeinschaft berührt. Hierin konstruiert die Inszenierung einen ereignishaften Massenkörper im Zusammenspiel von Publikum, Agierenden und Raum vermittels der Aufführung.

Es stellt sich jedoch die Frage inwiefern diese Masse bei Reinhardt keinen funktionellen, sondern einen rein ornamentalen Charakter hat. Siegfried Kracauer spricht in seinem gleichnamigen Essay vom Ornament der Masse.[2] Er macht dieses Massenornament primär an den Revuefilmen der frühen Hollywood Ära fest, jedoch lässt sich dasselbe Prinzip auch schon in Reinhardts Masseninszenierungen erkennen. Indem dieser nämlich das Publikum plakativ zu einem Teil der Inszenierung werden lässt, wird Masse hier zwar erlebbar, jedoch nicht erfahrbar.[3] Er reduziert den Massenkörper so auf ein ästhetisches Moment, welches dem ornamentalen Charakter der Kracauer’schen „Tillergirls“ entspricht. Wird hier Masse sinnlich erlebt, so wird die moderne Massenerfahrung nicht immanent bewältigbar gemacht, sondern nur in eine ornamentale Form gegossen, die dann mit beliebigen Inhalten gefüllt werden kann.

In gleicher Weise wie der massierte Körper des Publikums im Ödipus Rex ornamentale Gestalt annimmt, kann in der Inszenierung von Der Kaufmann von Venedig der Ort als Ornament verstanden werden. So wie Reinhardt das Publikum choreographisch in die Inszenierung im Zirkus Schuhmann und in der Ausstellungshalle einbindet, choreographiert er hier den Raum und verwendet ihn als ästhetisierte und affizierende Oberfläche.

Die Körper der Akteur*innen schaffen hier in Verbindung mit dem Campo San Trovaso ständig wandelnde Spielflächen, welche nur von den Darsteller*innen selbst vom Rest des Raumes abgegrenzt werden. Venedig wird hier scheinbar selbst zum Theater. Jedoch eben nicht Venedig selbst, sondern eine idealisierte, ästhetisierte Form von Venedig. Eine Inszenierung des Kaufmanns, die sich 1934 mit dem realen, historisierten Ort Venedig auseinandersetzt müsste doch zwangsläufig die historische Situation eines faschistischen Italiens in Kollaboration mit einem nazistischen Deutschland thematisieren. Es müsste auch die Figur des Shylock in Bezug zu historischem, dramatischem und aktuell politischem Antisemitismus setzen. Eine solche Inszenierung kann Venedig nicht nur als authentisierenden Backdrop verwenden, sondern muss das Spannungsverhältnis das nicht nur in den historischen, sondern auch in den aktuellen Raum eingeschrieben ist produktiv werden lassen.

Die beiden Inszenierungen von Max Reinhardt beschäftigen sich zwar vordergründig beide mit dem Verhältnis von Körper und Raum, jedoch erstarrt diese Beschäftigung hier zur ästhetischen Oberfläche. Indem auf der einen Seite der Massenkörper und andererseits der Ort ästhetisiert werden, kann das Spannungsverhältnis zwischen den beiden nicht produktiv werden. Reinhardt mag zwar versuchen ‚der Masse einen Ort‘ oder ‚der Fiktion eine Realität‘ zu geben, der Konflikt, der sich hierbei auftut, bleibt jedoch unbespielt.

 

Endnoten

[1] Ein durchaus zu Recht problematisierter Begriff, der spezifische Unterschiede zwischen einzelnen Körpern nivelliert und somit Körper, die zu weit aus der angestrebten Norm fallen von Vornherein ausschließen muss.

[2] Kracauer, Siegfried: „Das Ornament der Masse“ In: Kracauer, Siegfried: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977, S. 50-63.

[3] Diese Differenz zwischen Erlebnis und Erfahrung macht vor allem Walter Benjamin in seinem Baudelaire Aufsatz stark. Vgl. Benjamin, Walter: „Über einige Motive bei Baudelaire.“ In: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991, S. 615-653.

 

Das Titelbild ist ein Plan des Zirkus Schumann aus dem Jahr 1912. Aus: Hertzog, Rudolph (Hg.): Agenda 1912. Jahreskalender des Berliner Kaufhauses. Berlin: Verlag R. Hertzog 1912, S.110. Via: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Zirkus_Schumann_in_Berlin_NW,_Karlstraße,_Bestuhlung_1912.jpg.